„Deutsche Unternehmen halten der Ukraine die Treue“
Am 24. Februar 2022 hat die Invasion russischer Truppen in die Ukraine begonnen. Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, beobachtet seitdem keine wesentlichen Abwanderungstendenzen deutscher Unternehmen. Im Gespräch erklärt er, wie sich die deutsche Wirtschaft auf die Situation eingestellt hat, und was Bundesregierung und die Europäische Union (EU) jetzt tun sollten, um europäische Unternehmen und ihre ukrainischen Partner zu stärken.
AWE: Seit fast eineinhalb Jahren befindet sich die Ukraine in einem ungewollten Krieg. Welche wirtschaftlichen Auswirkungen lassen sich konstatieren – in der Ukraine und weltweit?
Michael Harms: Zunächst lassen Sie mich sagen, dass die deutschen Unternehmen der Ukraine die Treue halten. Wir können keine großen Abwanderungstendenzen beobachten. Die Firmen bleiben im Land, setzen in großen Teilen ihre Projekte und Aktivitäten fort und planen sogar neue Investitionen.
Das ukrainische Bruttoinlandsprodukt ist 2022 um rund 30 Prozent eingebrochen. In den ersten Monaten des Jahres 2023 sehen wir aber eine gewisse Stabilisierung. Erste Banken und Institutionen gehen in diesem Jahr wieder von einem Wirtschaftswachstum aus. Der deutsche Handel mit der Ukraine ging 2022 um knapp sieben Prozent zurück. Aus meiner Sicht ein moderater Rückgang, wenn man die Kriegssituation bedenkt.
Gleichwohl haben ukrainische Unternehmen aufgrund der Einschränkungen im Schiffsverkehr und noch unzureichender Alternativen Probleme beim Export. Die zurückgegangene Produktion und gesunkene Exporte haben zu Einnahmeverlusten geführt. Zudem haben ukrainische Firmen kaum Zugang zu Krediten und anderen finanziellen Ressourcen. Ein weiteres Problem: Geschäfte mit ukrainischen Partnern oder Einfahrten von Logistikern ins Land sind nur noch bedingt oder gar nicht mehr versicherbar. Positiv ist in diesem Zusammenhang die jüngste Entscheidung der Bundesregierung, Exportkreditgarantien wieder einfacher zu vergeben - umgesetzt von Euler Hermes, als Mandat des Bundes.
AWE: Gibt es regionale und sektorale Besonderheiten, die Sie in diesem Zusammenhang hervorheben möchten?
Harms: Wir haben den Eindruck, dass sich ukrainische Firmen in großem Tempo an die Kriegslage angepasst, und mit großer Flexibilität reagiert haben. Es kam zu keinen großen Kreditausfällen, die Produktion wurde in die Zentral- oder Westukraine verlagert und der mittel- und westeuropäische Markt entwickelt sich schrittweise zu einem wichtigeren Faktor. Hier war es ganz entscheidend, dass die EU ihren Binnenmarkt außerplanmäßig für die meisten ukrainischen Produkte geöffnet hat.
AWE: Wie hat sich die deutsche Wirtschaft auf die Situation eingestellt?
Harms: Nachdem im Frühjahr 2022 für einige Wochen die Unsicherheit groß war und es kurzfristig zu Produktionspausen kam, haben sich die Unternehmen schnell an die neue Situation angepasst. Gemeinsam mit ihren höchst engagierten ukrainischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurde die Produktion fortgeführt. Je nach geografischer Lage mussten Sicherheitsmaßnahmen zur Absicherung der Beschäftigten eingeführt werden. Wichtig war aber auch, dass die ukrainischen Beschäftigten in der Regel eine starke treibende Kraft waren, weiter aktiv zu bleiben und damit vielfach die Entscheidung der Unternehmen, im Land zu bleiben, sehr positiv beeinflusst haben.
AWE: Haben Sie ein Beispiel dafür, wie deutsche Unternehmen, die bereits in der Ukraine tätig waren, ihr Engagement dort fortsetzen oder sogar neu angehen?
Harms: Es gibt hier zwei prominente Beispiele. Zum einen der Baustoffhersteller Fixit, der seit Frühjahr 2023 einen neuen Standort im Westen der Ukraine errichtet – übrigens abgesichert durch das staatliche Instrument der Investitionskreditversicherung. Auch der Chemiekonzern Bayer geht voran und hat Investitionen in einem mittleren zweistelligen Millionenbereich im Saatgutbereich angekündigt. Außerdem sehen wir Aktivitäten zur Fortsetzung oder Neuentwicklung von Wind- und Solarparks. Dennoch, auch das sei hier erwähnt, ist es von großer Bedeutung, dass der Annäherungsprozess an die EU von der ukrainischen Regierung genutzt wird, um die Rahmenbedingungen für Investitionen für alle Unternehmen und auf allen Verwaltungsebenen weiter zu verbessern.
AWE: Reichen die Instrumente der Bundesregierung und der EU aus, um das Vertrauen der Investor:innen in die Ukraine zu stärken? Was müsste noch passieren?
Harms: Ein wichtiger Schritt war die Erweiterung des Instruments der Investitionsgarantien, welches nun auch unter Kriegsbedingungen in der Ukraine angewendet werden kann und Kriegsschäden sowie politische Risiken absichert. Wir kennen bereits einige Fälle von deutschen Unternehmen, für die das ein entscheidendes Argument war, Projekte zu beginnen. Kürzlich hat auch EulerHermes erklärt, dass die Warenkreditversicherung wieder vereinfacht wird und damit einen ersten Schritt zur Normalisierung des Instruments mit Blick auf die Ukraine getan.
Positiv bewerten wir auch, dass die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung mit der Arbeit an einem Instrument beginnt, mit dem der ukrainische kommerzielle Versicherungssektor gestärkt werden soll, und über das künftig auch wieder Transportversicherungen ermöglicht werden könnten. Das wäre ein wichtiger Schritt, um die Handelsbeziehungen zu stärken. Abseits von kriegsbedingten Fragen ist es wichtig, die Themen „gute Verwaltung“ und „effiziente Bürokratie“ nicht aus dem Blick zu verlieren und mit Hilfe von technischen Lösungen und transparenten Verfahren Vertrauen in das Funktionieren von Ausschreibungen und anderen Prozessen zu schaffen.
Im internationalen Kontext ist es positiv, dass mit der Ukraine-Fazilität auch ein Absicherungsmechanismus vorgeschlagen wurde, mit dem EU-Staaten eigene Investitionsschutzversicherungen aufsetzen können. Positiv wäre es hier, wenn auch ukrainische Anteile an Investments abgesichert würden und nicht nur die ausländischen Anteile.
AWE: Auf der London Recovery Conference wurde die Relevanz des Privatsektors herausgestellt. Der Ukraine wurden weitere Milliarden Euro an Unterstützung zugesichert. Worauf kann die Wirtschaft sich nun einstellen? Wo liegen Chancen?
Harms: Zum einen muss die Infrastruktur wieder aufgebaut werden. Dazu hat die ukrainische Regierung vorgeschlagen, öffentlich-private Partnerschaften zu nutzen. Hier benötigen wir nun eine Rahmengesetzgebung in der Ukraine, die eine verlässliche Grundlage für dieses Instrument schafft. Der Wiederaufbau von Schulen, Straßen, Brücken und kritischer Infrastruktur ist dabei eher eine öffentliche Aufgabe. Der Strom- und Energiesektor bietet jedoch perspektivisch kommerzielle Chancen.
Als zweite Säule daneben sind private Investitionen und unternehmerische Kooperationen zu betrachten. Hier kommt es auf die Wettbewerbs- und Rahmenbedingungen an. Zuvorderst müssen Unternehmen aber echte Business Cases in der Ukraine sehen. Das steht immer am Anfang von Investitionen. Chancen liegen dabei weiter in den Sektoren Agrar- und IT-Wirtschaft aber auch im Bereich Lohnveredelung, der Erzeugung von grüner Energie oder der Förderung wichtiger Rohstoffe. Interessant wird auch, inwieweit die Erfahrungen aus der Nutzung von Militärtechnik in Kombination mit digitalen Lösungen als Exportprodukt im Land kommerziell weiterentwickelt werden.
AWE: Wo können sich deutsche Unternehmen mit der ukrainischen Wirtschaft austauschen? Gibt es Netzwerke und Veranstaltungen, die Sie empfehlen können?
Harms: Wir als Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft bieten regelmäßige Formate genau für diesen Zweck an. Im Juli 2023 findet zum Beispiel ein Austausch deutscher Einkäuferinnen und Einkäufer und ukrainischer Lieferantinnen und Lieferanten für die industrielle Lieferkette statt, den wir gemeinsam mit dem Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik und der European Business Association organisieren. Am 24. Oktober 2023 planen wir gemeinsam mit der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer und der Deutschen Industrie- und Handelskammer das 6. Deutsch- Ukrainische Wirtschaftsforum in Berlin unter Beteiligung der Regierungen beider Länder. Zwischen solchen Formaten stehen wir selbstverständlich über unseren Ost-Ausschuss Service Desk Ukraine und unsere Regionaldirektion Osteuropa für alle Fragen zur Verfügung. Unternehmen können also jederzeit die Chance nutzen, in der Ukraine aktiv zu werden.
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