Wiederaufbau der Ukraine: Gesundheitswesen nachhaltig stärken
Wie kann sich die deutsche Gesundheitswirtschaft beim nachhaltigen Wiederaufbau des Gesundheitssektors in der Ukraine einbringen und perspektivisch die Modernisierung der medizinischen Infrastruktur im Land vorantreiben? Welche Rahmenbedingungen sind erforderlich, damit Unternehmen in der Ukraine aktiv werden oder ihr Engagement vor Ort ausbauen? Darüber reden wir mit Martina Unseld. Sie ist Senior Director International Affairs für den Wirtschaftsraum Europa, Naher Osten und Afrika (EMEA) bei der Siemens Healthineers AG. Als Sprecherin des gemeinsamen Arbeitskreises „Gesundheitswirtschaft“ von der German Health Alliance (GHA) und des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft e.V. ist sie Expertin für Healthcare und Gesundheitswirtschaft. Im Interview stellt Martina Unseld die Arbeit des Arbeitskreises vor, gibt einen Überblick über die Situation und laufende Projekte im Gesundheitsbereich und beleuchtet die Möglichkeiten für deutsche Firmen beim Wiederaufbau des ukrainischen Gesundheitswesens.
AWE: Sie sind Sprecherin des Arbeitskreises „Gesundheitswirtschaft“ des Ost-Ausschusses und der German Health Alliance (GHA). Wie setzt sich der Arbeitskreis zusammen und was sind seine Aufgaben und Ziele?
Martina Unseld: Der Arbeitskreis ist eine „Joint Working Group“, eine Kooperation von zwei Verbänden. Während der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft e.V. die regionale Perspektive der Länder Osteuropas und Zentralasiens mitbringt, ergänzt die German Health Alliance als Gesundheitsverband die gemeinsame Arbeit um die Healthcare-Perspektive. Damit haben wir einen Arbeitskreis geschaffen, der sich ganz klar auf die Gesundheitswirtschaft Osteuropas und Zentralasiens fokussiert. Unser Ziel: eine Plattform für die deutsche Gesundheitsindustrie zu schaffen, über die sich die Akteure mit politischen Entscheidungsträger:innen, Forschenden sowie weiteren Institutionen im Bereich Gesundheitswesen austauschen und vernetzen können. Beide Verbände haben zudem einen sehr guten Zugang zur deutschen Politik und zu den ausländischen Botschaften in Deutschland. Konkret unterstützt werden wir auch vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), das einen Business Scout for Development an die GHA entsandt hat, um die Kooperation zwischen Wirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit zu verzahnen.
AWE: Wie organisiert sich der Arbeitskreis?
Unseld: Zu unseren Formaten gehören drei Arbeitsgruppensitzungen pro Jahr. Daneben laden wir regelmäßig zu exklusiven Austauschveranstaltungen ein. Darüber hinaus findet traditionell jedes Jahr im Oktober unser „German – East European & CIS Health Forum“ in Berlin statt, bei dem wir entweder eine Region, ein Land oder ein spezifisches Thema, wie zum Beispiel die „Digitalisierung“, beleuchten. 2022 hatten wir natürlich einen sehr großen Fokus auf die Ukraine, aber auch auf die Länder Zentralasiens, auf die sich der russische Angriffskrieg ebenfalls auswirkt. Was in der Ukraine passiert, hat großen geopolitischen Einfluss und sogar auf die Gesundheitsversorgung in den zentralasiatischen Ländern, die sich in der Regel sehr stark an Russland orientiert haben. Und diese Auswirkungen inkludieren auch den Gesundheitsbereich, wie beispielsweise die Zulassung von Medizinprodukten – der russische Zulassungsprozess wurde auch für andere Länder adaptiert – aber auch den Gesundheitstourismus in der ganzen Region.
AWE: Was sind die drängendsten Themen für den Arbeitskreis Gesundheit in der aktuellen Situation?
Unseld: Nicht nur in Deutschland, auch in vielen Partnerländern des Ost-Ausschusses gibt es einen großen Fachkräftemangel in der Gesundheitsversorgung. Das beschäftigt uns sehr. Da Gesundheit aber kein Stand-Alone-Thema ist, ergeben sich immer wieder Überschneidungen mit anderen Bereichen, zum Beispiel mit der Logistik: Wie kommen in der Ukraine derzeit Arzneimittel oder medizintechnische Geräte von A nach B? Und wer bedient die Geräte, beziehungsweise versorgt die Kranken? Solche Fragen sollte man im Gesundheitswesen immer zusammendenken.
AWE: Wie ist die Situation derzeit in der Ukraine? Vor welchen Herausforderungen steht die Gesundheitswirtschaft vor Ort?
Unseld: Die ukrainische Regierung muss vor allem die medizinische Grundversorgung der Zivilbevölkerung sicherstellen. Und das mit einer Infrastruktur, die stark beschädigt ist. Es gibt viele Krankenhäuser, die nicht mehr oder nur teilweise funktionieren. Bei Luftalarm muss zum Beispiel die Versorgung verlagert werden. Gleichzeitig gilt es, das Militär zu versorgen. Es müssen zum Teil Verletzungen behandelt werden, die es in der Vergangenheit so nicht gab: Schuss-, Minen- und Brandverletzungen, deren Versorgung eine spezielle medizinische Ausbildung erfordern. Mittlerweile werden auch sehr viele verletzte Soldaten der ukrainischen Armee in deutschen Bundeswehrkrankenhäusern nachversorgt, nachdem sie von Militärangehörigen in der Ukraine erstbehandelt wurden. Von den Ärztinnen und Ärzten in Deutschland weiß ich, dass sie immer wieder auch Schrauben und andere Baumarkt-Materialien in den Körpern der ukrainischen Patienten finden. Das sind dann oft sehr schwere Fälle mit multiresistenten Keimen, deren Behandlung sehr langwierig und zeitintensiv ist.
AWE: Was passiert momentan im Bereich Soforthilfe für die Ukraine über den Gesundheitssektor?
Unseld: Das Bundesministerium für Gesundheit erhält vom ukrainischen Gesundheitsministerium Bedarfslisten, die auch an deutsche Industrieunternehmen gehen. Dabei handelt es sich um Güter, die ad hoc benötigt werden. Die Bedarfslisten werden aber auch zum Beispiel bei der GHA oder beim Ost-Ausschuss eingereicht. Die Verbände verteilen sie dann an ihre Mitglieder, so dass Unternehmen die Möglichkeit haben, ganz konkret zu helfen. Daneben bereitet das Bundesministerium für Gesundheit auch Hilfstransporte vor und setzt diese mit Hilfsorganisationen um. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Prothetik: So hat Ottobock in Lwiw ein großes Versorgungszentrum aufgebaut, wo Patient:innen behandelt werden können, die Prothesen benötigen.
AWE: Wie kann die neue „Plattform Wiederaufbau Ukraine“ der Bundesregierung unterstützen?
Das Thema „Wiederaufbau“ ist für die deutsche Gesundheitsindustrie von großem Interesse. Gerne würde sie sich mit ihrem Know-how und den innovativen Produkten und Lösungen einbringen. Grundsätzlich ist es daher gut, dass es die „Plattform Wiederaufbau Ukraine“ gibt. Wir hoffen aber, dass sowohl der Bereich der Förderinstrumente als auch die Gesamtkoordinierung der Wiederaufbaumaßnahmen der deutschen Bundesregierung noch ausgebaut werden.
Mittelfristig brauchen wir einen übergeordneten, strategischen Gesamtansatz für den Wiederaufbau des Gesundheitswesens – auch aus Sicht der Ukraine: Was braucht das Land, um seine Bevölkerung zu versorgen? Welche Infrastruktur wird benötigt, und welche Spezialisierung? Wie können wir den Gesundheitssektor so wiederherstellen, dass die Digitalisierung bestmöglich zur Anwendung kommt und das Ganze natürlich auch in einem Zeitrahmen, der überschaubar ist? Der größte Fehler wäre es, Gelder einzeln zu verteilen, ohne nachhaltige Strukturen zu schaffen. Wir wünschen uns, dass die Bundesregierung da noch tiefer einsteigt. Die Plattform könnte eine echte Chance sein, wenn sie entsprechend ausgestattet und weiterentwickelt wird.
AWE: Wie engagiert sich die deutsche Wirtschaft derzeit, und welche Möglichkeiten gibt für Unternehmen generell, den Gesundheitssektor der Ukraine zu unterstützen?
Unseld: Die Hilfsbereitschaft ist sehr groß, sei es über Geldspenden, Sachspenden oder durch die Unterstützung von Hilfstransporten. Durch unsere Mitglieder haben wir sehr viel Aktivität in alle Richtungen gesehen. Viele Unternehmen hoffen auch, im Rahmen von Aufträgen beteiligt zu werden, das läuft aber nur zögerlich an, auch weil die Mittelbeschaffung teilweise schwierig ist, Vertrauen und eine übergeordnete Planung fehlen. Perspektivisch würden sich die deutschen Unternehmen gerne stärker einbringen. Es gibt viele Ansätze, von Einzellösungen bis hin zu Gesamtinfrastrukturlösungen, wie den Bau von Krankenhäusern in Modulbauweise. Das sind Kliniken, die binnen kürzester Zeit aufgebaut, und sehr adäquat dem Bedarf angepasst werden können.
AWE: Was ist aus Sicht der GHA das Potenzial für deutsche Unternehmen im ukrainischen Gesundheitssektor – jetzt und perspektivisch, Stichwort Wiederaufbau?
Unseld: Trotz des Krieges entwickelt sich die Ukraine wieder zu einem interessanten Standort für deutsche Investitionen. Ich sehe da großes Potenzial für die deutsche Gesundheitswirtschaft. Insbesondere auch deshalb, weil die Ukraine wahrscheinlich mittelfristig in der Region eine andere Rolle spielen wird, als sie es in der Vergangenheit getan hat. Wie bereits gesagt: Generell sind sehr viele deutsche Unternehmen daran interessiert, sich in der Ukraine einzubringen. Aber dafür müssen sich auch die Rahmenbedingungen im Land ändern. Und damit meine ich faire Wettbewerbsbedingungen, faire Ausschreibungsverfahren und mehr Transparenz. Das sind unabhängig von der dramatischen Situation echte Investitionshemmnisse aus Industrie-Perspektive.
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