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Was der Ukraine-Krieg für Entwicklungs- und Schwellenländer bedeutet

Geografisch betrachtet ist der Krieg gegen die Ukraine für viele Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas weit weg. Dennoch sorgen gestiegene Rohstoffpreise und Lieferengpässe bei Nahrungsmitteln auch dort für Verunsicherung. Im Gespräch berichten Almut Rößner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Ostasiatischen Vereins (OAV), Orlando Baquero, Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika Vereins (LAV), und Christoph Kannengießer, Hauptgeschäftsführer des Afrika-Vereins, wie Unternehmen und Verbraucher:innen die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in den Regionen zu spüren bekommen.

AWE: Welche wirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Folgen hat der Russland-Ukraine-Krieg auf die Entwicklungen in Lateinamerika?

Orlando Baquero: Auf den ersten Blick scheint es, als könnte Lateinamerika durch die sich verändernde geopolitische Situation, die sich durch die Invasion Russlands in der Ukraine ergibt, einer der wichtigsten internationalen Partner für Europa werden.

Lateinamerika verfügt über enorme Energiereserven – 19,1 Prozent der Öl- und 4,2 Prozent der Gasreserven weltweit. Darüber hinaus hat die Region ein sehr hohes Potenzial für erneuerbare Energien und ist mit einer Energiematrix, die zu etwa 80 Prozent aus CO²-neutralen Quellen generiert wird, ein idealer Standort für die Erzeugung von grünem Wasserstoff. 

Aber auch bezüglich der Lebensmittelerzeugung ist Lateinamerika ein wichtiger Partner. Mit Argentinien, Brasilien und Mexiko sind drei der wichtigsten Agrarproduzenten der Welt vertreten. Getreide, Ölsaaten, Fleisch, Geflügel, Fisch, Früchte und viele weitere Produkte werden um ein Vielfaches mehr produziert, als für den Eigenkonsum notwendig ist, und es gibt ein großes Wachstumspotenzial. Wichtige Rohstoffe wie Kupfer, Gold, Silber, aber auch Seltene Erden, sind vorhanden. Alles was man heute dringend braucht. 

Die Region ist zudem ein „sicherer Hafen“. Sie vertritt die gleichen Werte wie Europa, ist also in vielerlei Hinsicht der ideale Partner. Aber kurzfristig stellt diese Situation auch eine Herausforderung dar. Preissteigerungen machen das Leben der Bevölkerung schwierig, die Inflation steigt, das Zinsniveau wird erhöht. Durch die Pandemie ist die Armut in der gesamten Region gestiegen und die auch dadurch entstehende politische Instabilität und Polarisierung wächst.

Lateinamerika Verein (LAV)

Orlando Baquero ist seit 2019 Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika Vereins.

Orlando Baquero ist seit 2019 Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika Vereins (LAV), der 1916 gegründet wurde. Zweck des Vereins ist es, unter Einbeziehung aller an den Ländern Lateinamerikas und der Karibik interessierten Unternehmen, Institutionen und Einzelpersonen, die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen den Beteiligten zu fördern und zu vertiefen.

AWE: Was sind die Auswirkungen für afrikanische Länder?

Christoph Kannengießer: Die steigenden Preise für Rohstoffe bieten den Staaten des afrikanischen Kontinents Chancen, stellen diese aber auch vor Herausforderungen. Während die Wachstumsprognosen für viele rohstoffexportierende Staaten nach oben korrigiert wurden, und politisch stabile afrikanische Länder nun als alternative Produktionsstätten in Betracht gezogen werden, belasten die hohen Inflationsraten insbesondere Privathaushalte. 

Die Ukraine und Russland waren die größten Weizenlieferanten vieler afrikanischer Länder. Durch die Unterbrechung der Lieferketten und die verheerenden Dürren in Nordafrika und am Horn von Afrika verschlechtert sich die Ernährungssicherheit von Millionen Menschen. Dies erhöht auch die Gefahr von politischer Instabilität. Zudem ist durch die Anhebung der Zinsen zur Bekämpfung der Inflation eine abnehmende Schuldentragfähigkeit vieler afrikanischer Länder zu befürchten.

Afrika-Verein (AV)

Christoph Kannengießer ist seit 2012 Hauptgeschäftsführer des Afrika-Vereins.

Christoph Kannengießer ist seit 2012 als Hauptgeschäftsführer des Afrika-Vereins (AV) tätig. Die Arbeit des Afrika-Vereins zielt darauf, die deutsch-afrikanischen Wirtschaftsbeziehungen zu stärken – durch die Vernetzung afrikanischer, europäischer und deutscher Akteure aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, die Bereitstellung von Informationen zu Märkten und Trends, sowie die Interessenvertretung gegenüber Regierungen und Öffentlichkeit. Der Afrika-Verein wurde 1934 gegründet.

AWE: Wie stellt sich die Lage im asiatisch-pazifischen Raum dar?

Almut Rößner: Putins Krieg in der Ukraine hat auch in asiatischen Ländern zu einem rapiden Preisanstieg und Knappheit an Öl, Rohstoffen und Lebensmitteln geführt. Die Weltbank sprach von einer ‚Triade von Schocks‘, die die Wachstumsdynamik zu untergraben droht. Sie hat die Wachstumsprognose für ganz Asien-Pazifik inklusive China jüngst von 5,4 auf 5 Prozent reduziert. Die ohnehin geschwächte Wirtschaftslage in Sri Lanka zum Beispiel wurde in Folge von Stromausfällen, Lebensmittelengpässen und Inflation so stark belastet, dass es zu gewalttätigen Unruhen und zum Rücktritt des gesamten Kabinetts kam. 

Langfristig werden sich Prioritäten der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit stärker an geopolitischen Kriterien orientieren. Insbesondere die Beziehungen zu Wertepartnern und Unterstützern der Russland-Sanktionen wie Japan, Singapur und Südkorea, aber auch die Kooperation mit Indien, werden an Relevanz gewinnen.

Ostasiatischer Verein (OAV)

Almuth Rößner ist seit 2019 geschäftsführendes Vorstandsmitglied beim Ostasiatischen Verein.

Almut Rößner ist seit 2019 geschäftsführendes Vorstandsmitglied beim Ostasiatischen Verein (OAV). Dieser unterstützt deutsche Unternehmen bei ihren Aktivitäten in ganz Asien-Pazifik. Er stellt seinen Mitgliedern unabhängige Informationen und Bewertungen zu Trends und Potenzialen zur Verfügung und bietet Know-how sowohl zu den Industrieländern als auch den Entwicklungs- und Schwellenländern. Gegründet wurde der OAV 1900 in Hamburg.

AWE: Wie können Wirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit Ihrer Meinung nach diesen Herausforderungen gemeinsam begegnen?

Christoph Kannengießer: Die Politik fokussiert sich noch immer zu stark ausschließlich auf Instrumente traditioneller Entwicklungszusammenarbeit und des Krisenmanagements. Wir brauchen einen breiteren Kooperationsansatz. Besonders wichtig ist die Förderung unternehmerischer Aktivitäten. Denn es hat sich gezeigt, dass Handel und Investition essenzielle Treiber von Entwicklung und Wohlstand sind.

Meiner persönlichen Auffassung nach sollte die Bundesregierung die Entwicklungszusammenarbeit und Außenwirtschaftsförderung ressortübergreifend harmonisieren und gezielt durch wissenschaftliche und unternehmerische Expertise flankieren und stärken. Entscheidend ist, dass die „außenpolitische Zeitenwende“ durch eine „außenwirtschaftspolitische Zeitenwende“ ergänzt wird, in deren Rahmen die Interessen Deutschlands eine größere Rolle bei entwicklungspolitischen Aktivitäten. Projekte in afrikanischen Ländern beispielsweise, die für Deutschland strategische Bedeutung haben, müssen künftig noch klarer auf politischer Ebene mit den Partnerländern vorangetrieben und auch konkret, beispielsweise durch vergünstigte Finanzierung oder durch Übernahme von Risiken, durch den Bund unterstützt werden.

Almut Rößner: Gerade in Entwicklungs- und Schwellenländern werden viele positive Entwicklungen und Erfolge der Armutsbekämpfung der letzten Jahre durch den Ukraine-Krieg zunichte gemacht. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie und gesteigerte Anforderungen aus dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz kommen hinzu, so dass sowohl Akteure der Entwicklungszusammenarbeit als auch deutsche Unternehmen gemeinsam mit Produzenten in Asien um praktische Lösungen bemüht sind.

Innovative digitale Lösungen wie Blockchain können hierbei einen wertvollen Beitrag leisten. Forschungsnahe Pilotprojekte und Förderung von Berufsbildung helfen, praxisorientiert nachhaltige Konzepte umzusetzen. 

Orlando Baquero: Der Russland-Ukraine Krieg ist nun das dritte Ereignis, nach der Pandemie und der Blockade des Suezkanals, das zeigt, wie anfällig unsere Lieferketten und die Idee der Globalisierung allgemein sind. Die Wirtschaft wird sich neu ausrichten müssen und ist bereits dabei. Wir beobachten ein stärkeres Interesse an Lateinamerika. Dabei wäre es sehr wichtig, Entwicklungszusammenarbeit und wirtschaftliches Engagement besser miteinander zu koordinieren. Wenn auch die Zielsetzung nicht immer die gleiche sein muss, können sich aus einer besseren Koordinierung viele Synergien und Effizienzen ergeben. 

Zum Beispiel bei der gemeinsamen Gestaltung der digitalen und ökologischen Transformation. Gemeinsam heißt: Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaft, aber auch Europa und Lateinamerika. Die Entwicklungszusammenarbeit könnte ferner als Brückenbauer für kleine und mittlere Unternehmen fungieren, die sich in der Region etablieren möchten, um die Hürde des ersten Schrittes zu erleichtern. Projekte der Entwicklungszusammenarbeit könnten durch die Einbeziehung der Wirtschaft nachhaltiger und effizienter gestaltet werden. Wirtschaftliche Projekte und entwicklungspolitische Ziele sollten flexibel miteinander funktionieren.

AWE: Rohstoffreiche Entwicklungs- und Schwellenländer werden derzeit als potenzielle Partner der EU stärker in den Blick genommen. Welche Chancen und Herausforderungen ergeben sich daraus aus Ihrer Sicht für die Länder und Regionen, die Ihre Vereine vertreten?

Almut Rößner: Diversifizierung lautet das Gebot der Stunde. Wenn insgesamt zwölf Prozent der weltweit gehandelten Kalorien allein aus Russland und der Ukraine stammen, wird deutlich, wie wichtig Risiko-Management aus staatlicher und unternehmerischer Perspektive allein für Grundlebensmittel ist. Der angekündigte Exportstopp von Getreide aus Indien und von Palmöl aus Indonesien ist zwar nachvollziehbar, kann jedoch keine langfristige Lösung sein. 

Die EU sollte mit rohstoffreichen Ländern wie den beiden genannten und der Mongolei pragmatisch Programme aufsetzen, bei denen europäische Expertise und Finanzierung unbürokratisch bereitgestellt werden und EU-Mitgliedstaaten im Gegenzug Zugang zu wichtigen Rohstoffen erhalten. Auch Ländern wie Nepal und südpazifischen Inselstaaten sollte Europa Alternativen für deren Infrastruktur- und Klimaherausforderungen aufzeigen. 

Christoph Kannengießer: Afrikanische Länder können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Deutschland und Europa von russischem Erdgas unabhängig werden. Gasproduzenten wie Nigeria, Angola, Kamerun und Äquatorialguinea könnten bestehende Anlagen ausbauen und mittelfristig Flüssigerdgas liefern. Über Pipelines könnte Europa direkt Erdgas aus Nordafrika beziehen. Die Herausforderung ist es, nicht nur in den Ausbau von fossilen Energieträgern zu investieren. 

Nachhaltige Investitionen in erneuerbare Energien und in die Produktion von grünem Wasserstoff sollten mittel- bis langfristig priorisiert werden, um die globalen Klimaschutzziele zu erreichen. Zudem sollten Energieträger nicht nur exportiert werden, sondern auch für lokale Wirtschaft und Privathaushalte zur Verfügung stehen. Wenn dies gelingt, können rohstoffexportierende Länder durch gestiegene Einnahmen und deren sinnvolle Reinvestition profitieren.

Orlando Baquero: Lateinamerika ist ein enger Partner Europas, mit den gleichen Werten und demokratisch gewählten Regierungen. Die Region verfügt über interessante Märkte, sie bietet viel Potenzial sowohl als Lieferant als auch als Investitionsstandort. Europa, speziell Deutschland, genießt ein sehr hohes Ansehen und die Beziehungen zu dieser europafreundlichen Region sind gut. Um diese Chancen nutzen zu können, sollte die Lateinamerika-Politik der Bundesregierung langfristig und ressortübergreifend vorangetrieben, und die europäische Zusammenarbeit auch dahingehend gestärkt werden, zum Beispiel durch die Ratifizierung des Mercosur-Abkommens. 

Auch sollten weitere wirtschaftliche Rahmenbedingungen verbessert, oder geschaffen werden, zum Beispiel durch Doppelbesteuerungsabkommen. Europa ist nicht der wichtigste Handelspartner der Region, und dessen muss man sich bewusst sein. Trotzdem ist Lateinamerika an einer Zusammenarbeit interessiert. Um gleichberechtigte Partner zu sein, sollten beide Seiten ihre Differenzen erkennen und trotzdem zusammenarbeiten.

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