Zwischen pura vida und Existenzängsten
Gemeinsam mit der Wirtschaft die Krise in Lateinamerika und der Karibik nachhaltig überwinden
Die Kameraaufnahme fliegt über dicht bewaldete Flächen hinweg, fängt einen bewegungslos verharrenden Frosch ein, späht über die Schulter einer kochenden Frau, schlängelt sich durch den Regenwald bis zu einer bläulich schimmernden Wasserstelle. Dann verdunkelt sich der Bildschirm, der magische Moment ist vorbei – vom mittelamerikanischen Dschungel zurück in die Realität in weniger als zwei Minuten. Das Video auf der Website des Unternehmens travel-to-nature GmbH lässt nur erahnen, welche Naturwunder die Gäste der „La Tigra Rainforest Lodge“ in Costa Rica hautnah erleben dürfen.
Hautnah, aber doch mit dem erforderlichen Abstand, denn entsprechend der Reisephilosophie des Geschäftsführers Rainer Stoll soll die Natur zwar erlebt, aber unter keinen Umständen gefährdet werden. Der Naturliebhaber und Artenschutzaktivist bezeichnet sich selbst als „Vorreiter im nachhaltigen Tourismus“, ihm kommt es vor allem darauf an, dass „die Wertschöpfung im Land bleibt, nachhaltig gereist wird, lokale Initiativen gestärkt und geschützt werden und der lokalen Bevölkerung durch den Tourismus Einnahmen verschafft werden“. Auf Grundlage dieser Unternehmensvision organisiert und plant travel-to-nature nicht nur nachhaltige Reisen für seine Kunden, in Zusammenarbeit mit lokalen Partnern wurde auch die ökologische Unterkunft „La Tigra Rainforest Lodge“ vor Ort aufgebaut. Die Idee dahinter: Reisende die Vielfalt des Urwaldes achtsam erleben lassen. Um dahin zu kommen, musste Stoll aber erst einmal selbst aktiv werden, denn die für das Projekt erworbene 8,5 Hektar große Fläche war zum Zeitpunkt des Kaufs durch travel-to-nature seit mehr als 20 Jahren nicht mehr bewaldet gewesen. Stattdessen war sie vor allem durch pestizidintensive Pflanzenzucht genutzt worden und die Artenvielfalt durch Wilderei stark zusammengeschrumpft. Die Aufforstung verlief so erfolgreich, dass die Flächenkapazität schnell erschöpft war. 23 weitere Hektar, die an die Projektfläche angrenzten und zuvor durch eine Maracujaplantage genutzt wurden, wurden hinzugekauft. „Für dessen Nutzung haben wir gemeinsam mit der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) das Projekt ‚Reserva Bosque de Tigra‘ ins Leben gerufen. Hier geht es nicht ums Geld verdienen, sondern um den Artenschutz und die Unterstützung der Einheimischen“, betont Stoll. Neben der Aufforstung der Fläche mit einheimischen Pflanzen, die neuen Lebensraum für heimische Tierarten schafft, bauen GIZ, travel-to-nature und der lokale Partner Cerro de Oro S.A. ein Umweltbildungszentrum auf. Hier können sich Touristen, Schülerinnen und Schüler sowie Anwohner über das Ökosystem Regenwald und dessen Schutz weiterbilden und informieren. Gleichzeitig werden Reiseleiterinnen und Reiseleiter ausgebildet und zertifiziert, der Schwerpunkt liegt selbstverständlich auf Ökotourismus und Umweltmanagement. „Gerade Frauen aus der Region schulen wir darin, wie zusätzliche Einnahmen aus Tourismus erzielt werden können. Wir machen uns quasi selbst Konkurrenz“, erklärt Rainer Stoll augenzwinkernd.
Die fachliche und finanzielle Unterstützung des Projektes durch die GIZ wurde im Rahmen einer develoPPP-Partnerschaft des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ermöglicht. Mit dem develoPPP-Programm fördert das BMZ das Engagement der Privatwirtschaft dort, wo unternehmerische Chancen und entwicklungspolitischer Handlungsbedarf zusammentreffen.
Über die letzten 20 Jahre sind so nicht nur neue Kooperationsformen zwischen öffentlichem und privatem Sektor entstanden, auch langjährige Partnerschaften zwischen deutschen und lokalen Unternehmen haben sich entwickelt. Der Mehrwert, den dies für alle Beteiligten bietet, wird besonders in Zeiten deutlich, in denen es gemeinsamer Lösungen bedarf – wie etwa während der aktuellen Covid-19-Pandemie: „Die Ticos [Einwohner Costa Ricas, Anm. d. Red.] sind immer etwas besser drauf als wir Deutschen. Die haben das Motto pura vida einfach in ihren Genen“, stellt Stoll fest. Doch auch mittelamerikanische Leichtigkeit täuscht nicht über die schwerwiegenden Auswirkungen der Pandemie für die lokale Bevölkerung hinweg: „Vielen Menschen vor Ort geht es sehr schlecht – gerade im Tourismus ist die Lage natürlich katastrophal“, bemerkt er. Wie katastrophal genau lassen die aktuellsten Zahlen der Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) erahnen: Sie beziffern den Einbruch der weltweiten touristischen Ankünfte mit 35 Prozent für Südamerika, 39 Prozent für die Karibik und 35 Prozent für Zentralamerika im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (Quelle).
Insbesondere für Mittelamerika und die Karibik spielt der Tourismussektor eine Schlüsselrolle im wirtschaftlichen Wachstum. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie bedeuten allerdings auch für andere Branchen weltweit und in der Region tiefe Einschnitte, etwa durch Einbrüche im Export industrieller Zwischenprodukte und fallende Rohstoffpreise (Quelle). Laut Prognosen der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) werden sich die aktuellen wirtschaftlichen Einbußen in einem Rückgang des regionalen Bruttoinlandsproduktes (BIP) von rund 9 % in diesem Jahr (Quelle) niederschlagen. Treffen wird dies – wie so oft – die besonders verwundbaren Gruppen in der Gesellschaft: Frauen, junge Menschen, sowie Arbeitskräfte im Niedriglohn- und informellen Sektor sind akut von Arbeitslosigkeit und Armut bedroht. Zudem haben sich Lateinamerika und die Karibik zu einem Hotspot der Covid-19-Pandemie entwickelt: Nachdem sich das Virus zunächst insbesondere in Europa ausbreitete, sind inzwischen fünf Staaten der Region unter den Top-10 der Länder mit den weltweit höchsten Fallzahlen (Quelle). Auch hier sind die Folgen für das Gesundheitssystem verheerend: Die fragmentierten Strukturen sind bereits jetzt komplett überlastet.
Zehn Jahre vor Ende der Agenda 2030 der Vereinten Nationen bedrohen die aktuellen Entwicklungen die Fortschritte, die in den letzten fünf Jahren im Bereich nachhaltige Entwicklung in der Region erreicht wurden. „Der Fahrplan zur Erreichung der 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 war immer ehrgeizig“, stellt Karla Beteta, Seniorberaterin bei der Agentur für Wirtschaft und Entwicklung (AWE), fest. „Es war von Beginn an klar, dass diese nur in Austausch und Zusammenarbeit von öffentlichem und privaten Sektor erreicht werden können. Die aktuelle Wirtschafts- und Gesundheitskrise erfordert ein verstärktes Engagement von allen Seiten, insbesondere in den Zukunftsbereichen Digitalisierung, Klimaschutz und Bioökonomie“, betont sie. Neue Schwerpunkte des BMZ im Schutz globaler Güter, aber auch europäische Initiativen wie der europäische „Grüne Deal“ seien in diesem Zusammenhang begrüßenswerte Maßnahmen, kommen sie letztendlich doch allen Ländern zugute. Denn auch wenn Wetterextreme, knappe Wasserreserven und verdorrte Böden zunächst insbesondere die Existenz der Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern bedrohen, hat die Zerstörung der dort vorzufindenden tropischen Regenwälder, der sogenannten „grünen Lunge der Erde“, fatale Auswirkungen für das globale Ökosystem.
Vorreiter in Nachhaltigkeit wie das Unternehmen travel-to-nature zeigen, dass sich wirtschaftlicher Erfolg und Achtsamkeit im Umgang mit natürlichen Ressourcen nicht ausschließen. Lateinamerika bietet dafür die besten Voraussetzungen: Der Kontinent beherbergt nicht nur einen Großteil der globalen Biodiversität. Zusätzlich zieht die Region zahlreiche ausländische Investoren an, die von den vorteilhaften Standortfaktoren profitieren möchten: Gut ausgebildete Fachkräfte, ein erleichterter Zugang zu Rohstoffen sowie die Nähe zu tiefen Beschaffungs- und Absatzmärkten sind nur einige der Aspekte, die privatwirtschaftliche Investitionen attraktiv machen. Und für europäische Unternehmen, die Projekte und Investitionen in Entwicklungs- und Schwellenländern planen, gibt es zusätzlich gute Nachrichten: Neben einer develoPPP-Partnerschaft bietet das BMZ weitere vielfältige Förder- und Finanzierungsprogramme, mithilfe derer nachhaltige unternehmerische Vorhaben unterstützt werden. Denn ohne den Privatsektor wird langfristige Entwicklung auch in Zukunft nicht möglich sein. Unternehmen, die sich über BMZ-Programme und Investitionsmöglichkeiten informieren möchten, stehen die Regional- und Branchenexperten der Agentur für Wirtschaft und Entwicklung (AWE) als erste Anlaufstelle für niedrigschwellige und vertrauliche Beratung zur Seite. Rainer Stoll empfiehlt Unternehmen, die Beratungsangebote der Entwicklungszusammenarbeit wahrzunehmen: „Die GIZ in Costa Rica war ein sehr verlässlicher Partner für uns mit außerordentlich viel Know-how“.
von Judith Martschin
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