„Es bleibt noch enorm viel zu tun“. Interview mit Kirsi Madi von UN Women
Wie steht es um die Geschlechtergerechtigkeit in der deutschen Wirtschaft? Was muss getan werden, um weltweit Frauen im Wirtschaftsleben zu stärken und Ungleichheiten zu beseitigen? Darüber sprachen wir am Rande des 2024 WEPs Forum Germany mit Kirsi Madi. Sie ist stellvertretende Exekutivdirektorin für Ressourcenmanagement, Nachhaltigkeit und Partnerschaften bei UN Women.
Agentur für Wirtschaft und Entwicklung (AWE): Frau Madi, die Women’s Empowerment Principles (WEPs) bieten Unternehmen klare Richtlinien, um Frauen im Berufsleben zu stärken. Wie tragen die WEPs konkret zu den Sustainable Development Goals (SDGs) und zur Agenda 2030 bei?
Kirsi Madi: Der Privatsektor spielt eine Schlüsselrolle für die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und die SDGs. Investitionen in SDG 5 zur Geschlechtergleichheit tragen dazu bei, dass wir auch bei allen anderen 16 Nachhaltigkeitszielen schneller vorankommen. Die WEPs bilden dafür ein globales Netzwerk und einen konkreten Rahmen für den privaten Sektor – mit Richtlinien, Werkzeugen und Ressourcen.
Unternehmen sind nicht nur der größte Arbeitgeber in den meisten Ländern, sondern sie beeinflussen durch ihre Ökosysteme auch die gesamte Wertschöpfungskette – von den Mitarbeitenden und Geschäftspartnern, mit denen sie zusammenarbeiten, über Lieferanten bis hin zu den Konsumenten und Kunden, die sie mit ihren Produkten und Dienstleistungen bedienen. Indem die Unternehmensführung die WEPs unterzeichnet, verpflichten sie sich öffentlich dazu, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die Geschlechtergleichstellung und die Stärkung der Frauen am Arbeitsplatz, im Markt und in der Gesellschaft voranzubringen.
Über den Tellerrand blicken und kreativ sein
AWE: Obwohl die wirtschaftliche Gleichstellung von Frauen enorme wirtschaftliche Vorteile bringen könnte, schließt sich die Geschlechterlücke nur langsam. Welche Ansätze sind für Sie entscheidend, um die Geschlechtergerechtigkeit schneller voranzutreiben?
Madi: Neue und kreative Ansätze zur Bekämpfung der Ungleichheit erfordern, dass man über den Tellerrand hinaus blickt und neue Ideen ausprobiert. Aber was in einem Land, einer Branche oder einem Unternehmen innovativ erscheint, mag woanders nicht innovativ sein – das hängt ganz wesentlich von den jeweiligen sozialen, kulturellen und geschlechterspezifischen Normen ab.
Damit sich etwas verändert, brauchen wir unternehmensweite Verpflichtungen zur Geschlechtergleichstellung, geschlechtergerechte Führungsprinzipien und transformative Ansätze. Transformation erfordert, dass wir ungleiche Geschlechterverhältnisse sowie diskriminierende Normen und Praktiken in Frage stellen. Dies kann auch beinhalten, traditionelle Rollen in der Pflege auf den Prüfstand stellen, zum Beispiel: Wer lässt sich von der Arbeit befreien, um sich um Familienmitglieder, vor allen Dingen um Kinder zu kümmern?
Ein bahnbrechender Ansatz sind fortschrittliche Regelungen zur Vaterschaftszeit. Dies kann ein echter Game Changer für Frauen sein – vorausgesetzt, Männer müssen sich nicht mehr vor Stigmatisierung fürchten, wenn sie sich freinehmen, um für ihre Kinder sowie kranke und ältere Menschen zu sorgen. Denn die ungleiche Verteilung familiärer Verantwortlichkeiten, gepaart mit unflexiblen Arbeitsregelungen, führt oft dazu, dass Frauen sich für Teilzeitbeschäftigungen entscheiden. Es verwehrt ihnen ebenfalls oft den Eintritt in schnelllebige Branchen und hindert sie daran, Führungspositionen zu übernehmen.
AWE: Welche spezifischen Strategien und Maßnahmen empfehlen die WEPs, um jene Barrieren abzubauen, die die Geschlechtergerechtigkeit in der Wirtschaft behindern? Wie können diese Strategien effektiv umgesetzt werden?
Madi: Die sieben WEPs dienen dazu, die Menschenrechte zu stärken, Diskriminierung zu beseitigen und Vielfalt und Inklusion am Arbeitsplatz, im Markt und in der Gemeinschaft zu fördern. Denn um die Barrieren zur Geschlechtergleichstellung zu überwinden, brauchen wir einen umfassenden systemischen Ansatz. Nichtsdestotrotz hat jedes Unternehmen die Macht, durch geschlechtersensible Beschaffung und andere Maßnahmen kollaborative Veränderungen innerhalb seiner gesamten Wertschöpfungskette und unter den beteiligten Akteuren zu bewirken.
Das Prinzip der Geschlechtergerechtigkeit in strategische und operative Rahmen einzubinden, hat unbestreitbar transformative Wirkung. Deshalb arbeitet UN Women innerhalb von Branchen und branchenübergreifend mit Unternehmen zusammen. Dadurch können wir die Gleichstellung in den globalen Lieferketten beschleunigen und tiefgreifende Welleneffekte in der Wirtschaft auslösen. Auch die nationalen Regierungen spielen eine wichtige Rolle bei der Umsetzung dieser Strategien, indem sie die passenden (rechtlichen) Rahmenbedingungen schaffen, damit die Wirtschaft ihrer Verantwortung und ihren Verpflichtungen zur Geschlechtergleichstellung gerecht werden kann.
Es wird vielfach erwartet, dass Frauen traditionelle Rollen einnehmen
AWE: Im Zentrum des 2024 WEPs Forum Germany stehen jene deutschen Unternehmen, die sich den WEPs verpflichtet haben. Wie bewerten Sie die Fortschritte und Herausforderungen der deutschen Wirtschaft in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung von Frauen?
Madi: Deutschland ist im Vergleich zu vielen anderen Ländern weit in der Geschlechtergerechtigkeit, insbesondere im politischen Bereich, wo Frauen erheblichen Einfluss in Ministerien und im Parlament haben. Was die Gleichstellung in der Wirtschaft betrifft, halten sich die bestehenden Herausforderungen hartnäckig. 2023 lag die Lohnlücke in Deutschland mit 18 Prozent deutlich über dem EU-Durchschnitt von 13 Prozent. Bei Teilzeitbeschäftigungen zeigen sich erhebliche geschlechtsspezifische Unterschiede: Fast drei Viertel haben Frauen inne, die dadurch oft keine angemessene soziale Absicherung haben. Das Rentengefälle zwischen den Geschlechtern ist das zweithöchste in Europa und verdeutlicht die ernüchternde Realität in Bezug auf finanzielle Absicherung für viele Frauen im Ruhestand. Spitzenpositionen im Management bleiben größtenteils eine männliche Domäne. Hier stagniert der Frauenanteil seit 18 Jahren. 2022 betrug ihr Anteil 28 Prozent. Dass es in Deutschland so langsam vorangeht, ist teilweise auf festsitzende traditionelle Geschlechterrollen zurückzuführen. Eine UN Women-Studie von 2022 in 20 Ländern zeigt, dass Männer eher als Frauen stereotype Ansichten über Geschlechterrollen haben, und jüngere Männer sogar noch stärker. So wird zum Beispiel von Frauen vielfach immer noch erwartet, dass sie eine „traditionelle“ Rolle spielen und für die Kinder oder andere Familienangehörige sorgen.
AWE: Die WEPs bestehen seit 2010. Fast 10.000 Unternehmen weltweit haben sie bereits unterzeichnet, darunter 139 deutsche Unternehmen. Wie zufrieden sind Sie mit den aktuellen Zahlen?
Madi: In den vergangenen sieben Jahren haben wir bei der Erweiterung des WEPs-Netzwerks bedeutende Fortschritte gemacht. Dennoch gibt es weltweit über 350 Millionen Unternehmen, davon etwa 3,5 Millionen in Deutschland. Das heißt, hier bleibt noch enorm viel zu tun.
Dank unserer wertvollen Partner aus dem öffentlichen und privaten Sektor, aus der Zivilgesellschaft und innerhalb des UN-Systems bauen wir durch die WEPs-Initiative ein robustes globales Ökosystem geschlechtergerechter Unternehmen auf. Viele dieser Partner haben die WEPs in ihre Einkaufspolitik integriert und ermutigen ihre Lieferantinnen und Lieferanten, sich ebenfalls zu diesen Prinzipien zu verpflichten. Es geht jedoch nicht nur um die bloße Zahl der beteiligten Unternehmen. Was wirklich zählt ist, wie diese Unternehmen ihre WEPs-Verpflichtungen in sinnvolle und transformative Maßnahmen umsetzen. Wir fordern, dass mehr Unternehmen transparent über ihre Fortschritte berichten und den Einfluss ihrer Initiativen offenlegen. Gemeinsam können wir handfeste Veränderungen hin zur Geschlechtergleichstellung vorantreiben
AWE: Wie können Unternehmen und Organisationen weltweit ermutigt werden, die WEPs zu implementieren? Welche Vorteile ergeben sich hieraus für Unternehmen?
Madi: Unternehmen, die die WEPs umsetzen, tragen erstmal dazu bei, die Menschenrechte zu stärken und die SDGs umzusetzen, vor allem SDG 5. Darüber hinaus ergeben sich unzählige weitere Vorteile. Der betriebswirtschaftliche Nutzen der Geschlechtergleichstellung wurde bereits durch zahlreiche Studien und Berichte ausführlich herausgearbeitet. Zu den Vorteilen gehören eine höhere Zufriedenheit der Beschäftigten, weniger Fluktuation und Abwesenheiten, stärkere Unternehmensreputation sowie gesteigerte Produktivität und organisatorische Effektivität. Untersuchungen zeigen auch, dass Unternehmen mit größerer Geschlechtervielfalt die Bedarfe von Verbraucherinnen und Verbrauchern besser einschätzen können und widerstandsfähiger und flexibler sind.
AWE: Die AWE unterstützt nachhaltige gemeinsame Projekte von Entwicklungspolitik und Wirtschaft im Globalen Süden und trägt damit zur sozial-ökologischen Transformation bei. Wie kann UN Women unsere Partnerunternehmen dabei unterstützen, die WEPs einzuführen?
Madi: Die Zusammenarbeit zwischen UN Women und AWE zu stärken stellt eine wichtige Möglichkeit dar, transformativen Wandel hin zur Geschlechtergleichstellung im deutschen Privatsektor und darüber hinaus anzustoßen. Um nur ein paar Möglichkeiten zu nennen: Wir können beispielsweise in unserer Rolle als Fürsprecher die Verbreitung der WEPs in Deutschland und in den Zielmärkten begleiten. Wir können Unternehmen durch Maßnahmen zur Kapazitätsentwicklung bei der wirksamen Umsetzung der WEPs helfen. Und wir könnten Wissen und Erfahrungen aus der Wirtschaft über bewährte Verfahren zur Umsetzung verantwortungsvoller und geschlechtergerechter Praktiken zusammentragen.
AWE: Wie kann echte weibliche Führung die Wirtschaft der Zukunft voranbringen und welche Rolle spielt dabei die Sichtbarkeit und Förderung weiblicher Führungskräfte durch Initiativen wie die WEPs?
Madi: Authentische Führung ist eine wichtige Führungsphilosophie für zukunftsorientierte Organisationen. Daten zeigen, dass Frauen in vielen Kompetenzen, die mit authentischer Führung verbunden sind, hervorragende Leistungen erbringen, etwa Selbstwahrnehmung, emotionale Intelligenz, Priorisierung von Zusammenarbeit und effektive Kommunikation. Diese Philosophie ist auch für Frauen, die Führungsrollen übernehmen, von großer Bedeutung. Die WEPs zielen darauf ab, vielfältige und inklusive Arbeitsplätze zu fördern, an denen Frauen Seite an Seite mit ihren männlichen Kollegen Unternehmen leiten und dabei die unterschiedlichen Qualitäten des Frauseins wertschätzen. Die Förderung dieser Philosophie kann dazu beitragen, das Führungspotenzial von Frauen freizusetzen und die Geschlechtergleichstellung zu beschleunigen.
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